Weltpolitik als Schachspiel: Was sich von Zbigniew Brzeziński heute noch lernen lässt..

Wer verstehen will, was gespielt wird, sollte dieses Buch lesen, gerade auch, wenn sich inzwischen manches verändert hat.

Im amerikanischen Original hieß es tatsächlich „The Grand Chessboard:

American Primacy and Its Geostrategic Imperatives“. 1997 erstmals in den USA erschienen, kam es 1999 mit einem Vorwort Hans-Dietrich Genschers unter dem Titel „Die einzige Weltmacht“ auf Deutsch heraus, erreichte bei S. Fischer mehrere Auflagen, war bald vergriffen.

Jetzt wurde es vom Nomen Verlag wieder auf den Markt gebracht. 

Eine faszinierende Mischung von strategischem Scharfsinn und geopolitischer Überheblichkeit. Aber Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. 

Von Irmtraud Gutschke auf den Nachdenkseiten

Als US-amerikanischer Geostratege ist Zbigniew Brzeziński (1928-2017) nach dem Zweiten Weltkrieg von immensem Einfluss gewesen.

Von 1966 bis 1968 war er Wahlkampf-Berater Lyndon B. Johnsons und von 1977 bis 1981 Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter. Er war Professor für US-amerikanische Außenpolitik an der School of Advanced International Studies (SAIS) der Johns Hopkins University in Washington, D.C., Berater am „Zentrum für Strategische und Internationale Studien“ (CSIS) in Washington, D.C. und stellvertretender Vorsitzender der National Advisory Task Force von Präsident George Bush senior, zudem Unternehmensberater für mehrere große US-amerikanische und internationale Firmen.

Viele seiner geopolitischen Analysen dürften regierungsintern geblieben sein, sodass wir in seinen Buchveröffentlichungen wohl nur die Spitze des Eisbergs sehen. Deren antikommunistische Zielrichtung entsprach US-amerikanischer Politik und hatte zudem einen persönlichen Hintergrund. 1928 in Warschau als Sohn des Diplomaten Tadeusz Brzeziński geboren, hat er aus der Zeit der stalinistischen Säuberungen in seiner Familie tiefe Aversionen mitgebracht. Zudem stammte das Adelsgeschlecht der Brzezińskis aus der Stadt Brzeżany, die 1945 von der Sowjetunion annektiert und der Ukrainischen SSR angegliedert wurde.

Wäre der Autor einfach nur ein ideologischer Scharfmacher gewesen, könnte man sich die Lektüre sparen.

Erhellend ist sie indes allein schon, weil sie so konsequent der im deutschen Titel benannten Zielrichtung folgt: „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft und der Kampf um Eurasien“. Erhellend, weil es diesbezüglich eine verbreitete Traumverlorenheit gibt, zumal im Westen Deutschlands, wo die USA nach dem Zweiten Weltkrieg als Schutzmacht und Freiheitsbringer wahrgenommen wurden – gegen den von der UdSSR dominierten Osten, wo der Versuch einer Gesellschaft ohne kapitalistische Ausbeutung letztlich scheiterte.

Ein Ende des Kalten Krieges erschien verheißungsvoll. Doch der Traum von einem gemeinsamen europäischen Haus zerschellte für den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow ebenso wie für viele andere Menschen, die sich ein Ende der Konfrontationen in der Welt erhofft hatten. Dass dies jenseits des Atlantiks als Freibrief empfunden wurde, die eigenen Interessen als „einzige Weltmacht“ umso rigider durchzusetzen, ist für Leser der NachDenkSeiten nicht neu. Aber im vorliegenden Buch werden diese weltweiten Hegemoniebestrebungen strategisch und taktisch dermaßen detailliert analysiert, dass ich es immer wieder für verwunderlich hielt, wie sowas an die Öffentlichkeit gekommen ist.

Die Ukraine als „geopolitischer Dreh- und Angelpunkt“

Wer zum Beispiel hierzulande noch glaubt, dass es sich beim Krieg in der Ukraine um einen Konflikt zwischen zwei Staaten handelt, von denen der größere den kleineren aus heiterem Himmel überfiel und nun im Sinne von Humanität und Völkerrecht mit allen Mitteln zurückzudrängen ist, sollte dieses Buch lesen. Schon 1997 ist darin die besondere Bedeutung der Ukraine als „ein neuer und wichtiger Raum auf dem europäischen Schachbrett“ hervorgehoben, damit auf dem einst sowjetischen Gebiet kein erneuertes Imperium entstehen könne.

Für die USA sei sie „ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt“, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Transformation Russlands beitragen würde. „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. Es kann trotzdem nach einem imperialen Status streben, würde aber dann ein vorwiegend asiatisches Reich werden, das aller Wahrscheinlichkeit nach in lähmende Konflikte mit aufbegehrenden Zentralasiaten hineingezogen würde … Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden. Verlöre die Ukraine ihre Unabhängigkeit, so hätte das unmittelbare Folgen für Mitteleuropa und würde Polen zu einem geopolitischen Angelpunkt an der Ostgrenze eines vereinten Europas werden lassen.“ [1]

Schon 1997, wie gesagt, gab es den Plan einer Ukraine-Front.

Die Ausdehnung der EU, so Brzeziński, würde zwar eine europäische Entscheidung sein, für die NATO-Entscheidung indes sei die „Stimme der USA … noch immer maßgebend“. Da würde es bald auch um den Status der Ukraine gehen. [2] Noch ist Jelzin-Zeit, und eine mögliche Anwartschaft Russlands, in westliche Strukturen aufgenommen zu werden, steht im Raum. „Aber was wäre dann mit der Ukraine?“, zweifelt Brzeziński. „Russlands innenpolitische Erholung ist die wesentliche Voraussetzung für seine Demokratisierung und letztlich für seine Europäisierung. Aber jede Erholung seines imperialen Potenzials wäre beiden Zielen abträglich.“ [3]

Den Zerfall der Sowjetunion sieht der Autor sowohl mit Genugtuung als auch mit einer viel größeren Sensibilität als andere, was die Folgen betrifft. Er hat durchaus eine Antenne für „den historischen Schock, den die Russen erlitten“ und auch für ihre gemeinsame „panslawische Identität“ mit der Ukraine [4]. Er fühlt nach, was der Verlust der Ukraine mit ihren „52 Millionen Menschen, die den Russen ethnisch und religiös nahe genug standen, um Russland zu einem wirklich großen und selbstsicheren imperialen Staat zu machen“, [5] geostrategisch, wirtschaftlich und politisch-emotional bedeutet. Und er gibt russischen Analytikern sogar recht, „dass die USA in ganz Eurasien eine Reorganisation der zwischenstaatlichen Beziehungen anstrebten“ – ohne eine führende Macht, sondern mit vielen einzelnen, die sogar „im Kollektiv den Vereinigten Staaten zwangsläufig unterlegen seien“. [6]

Teile und herrsche.

Schon spätestens seit 1994 (als Berater Clintons muss er es ja wissen) habe es in den USA eine „zunehmende Tendenz“ gegeben, den amerikanisch-ukrainischen Beziehungen höchste Priorität beizumessen und der Ukraine ihre neue nationale Freiheit bewahren zu helfen“. [7] Dass dies eine gefährliche Politik war – hier findet sich schon eine vage Ahnung. Wie sie damals von Helmut Kohl unterstützt worden ist, war mir bislang nicht bewusst. „Auch amerikanische Politiker bezeichneten das amerikanisch-ukrainische Verhältnis nun als eine ‚strategische Partnerschaft‘ und bedienten sich dabei bewusst desselben Begriffs, mit denen sie die Beziehungen der USA zu Russland beschrieben hatten.“ [8]

Aber „Russland war einfach zu rückständig und durch den Kommunismus zu heruntergewirtschaftet, um ein brauchbarer demokratischer Partner der Vereinigten Staaten zu sein. Über dieses Kernproblem konnte auch keine vollmundige Partnerschaftsrhetorik hinwegtäuschen.“ [9] Es ist tatsächlich frappierend, mit welcher Offenheit diese absichtsvolle Täuschung hier zugegeben wird und mit welcher Herablassung das geschieht. Wie sich der Ukraine-Konflikt ab 2014 zuspitzen würde, hat Brzeziński wohl dennoch nicht in aller Deutlichkeit vorausgesehen.

In einem Artikel für die Washington Post am 3. März 2014 schlägt er eine Doppelstrategie vor:

Androhung militärischer Stärke seitens des Westens und gleichzeitig Beschwichtigung, indem man Russland versichert, dass die Ukraine nicht in die NATO hineingezogen würde.[10]

Aber was derlei Versicherungen betraf, waren die Russen doch längst schon gebrannte Kinder. Dass der Ukraine ein NATO-Beitritt schon zwischen 2005 bis 2010 in Aussicht gestellt worden ist, wie hier verlautet, dürfte auch Moskau nicht entgangen sein.

Klartext, auch was Deutschland betrifft

Man staunt wirklich: Das Buch hätte eigentlich das Zeug zu einem Geheimpapier gehabt, welches keinesfalls politischen Widersachern vor Augen kommen soll. So aber konnte man es sich vielerorts auf der Welt zu Gemüte führen. In russischer Übersetzung kam es 1999 unter dem Titel „Velikaja schachmatnaja doska“ heraus und ist problemlos im Internet nachzulesen. Natürlich ist es faszinierend, sich Weltpolitik als großes Schachspiel vorzustellen. Wie Zbigniew Brzeziński diese intellektuelle Herausforderung genoss, die ihn anderen auch überlegen macht, ist nachzuvollziehen, und man hat beim Lesen daran teil. Doch welche Überheblichkeit, Staaten wie Spielfiguren zu behandeln! Ob Widersacher oder Vasall, sie werden charakterisiert, ob es ihnen so gefällt oder nicht. Armenier und Bulgaren, Chinesen und Esten, Franzosen und Georgier, Inder und Iraner, Japaner und Kasachen, Letten und Mongolen, Österreicher und Polen, Tadschiken und Türken … – aus US-amerikanischer Sicht scheint die Rangordnung unstrittig. Das muss man sich zu Gemüte führen. Wer noch nicht aus dem „American Dream“ erwacht ist, den Brzeziński der „Soft Power“ zuordnet, wer noch irgendwelche transatlantischen Illusionen hegt, der braucht dieses Buch geradezu, um zu Besinnung zu kommen.

Die drei Imperative imperialer Geostrategie werden klar benannt:

„Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zu schützen sowie dafür zu sorgen, dass sich die ‚Barbarenvölker‘ nicht zusammenschließen.“ [11

Und wo ist Deutschlands Platz? 

Auf rund 50 Seiten wird man fündig und muss die Herablassung wohl akzeptieren.

 „Musterknaben“ im europäischen Brückenkopf werden wir genannt. 

Weil wir auf „historische Reinigung“ aus sind, wird uns die Aussöhnung mit Polen zugutegehalten. [12]

 „Selbst Deutschland ließe sich vielleicht dazu verleiten, eine französische Führungsrolle in einem vereinten aber (von Amerika) unabhängigen Europa zu akzeptieren, doch nur, wenn es in Frankreich tatsächlich eine Weltmacht sähe, die Europa die Sicherheit verschaffen könnte, die es selbst nicht gewährleisten kann, wohl aber die USA.“ [13]

Was die die Bestrebungen der USA und die unsrigen indes im Grundlegenden trennt, belegt ein weiteres Zitat: „Sich selbst überlassen, laufen die Europäer Gefahr, von ihren sozialen Problemen völlig vereinnahmt zu werden.“ Die Kosten der alle Bereiche erfassenden Ausweitung des sozialstaatlichen Systems, das Eigenverantwortlichkeit kleinschreibt“, würden sich ökonomisch und politisch schädigend auswirken. „Kulturelle Lethargie, eine Kombination von eskapistischem Hedonismus und geistiger Leere“ könnten von „nationalistischen Extremisten oder dogmatischen Ideologen ausgenutzt werden“. [14] Solche Einlassungen gegen das, was vom Sozialstaat noch übrig ist, werden wir in Zukunft wohl noch häufiger zu hören bekommen.

„Man kann nur wünschen, dass sich die Einsicht von der Gleichwertigkeit Europas im amerikanischen Denken allgemein durchsetzt“, schreibt Hans-Dietrich Genscher im Vorwort zur deutschen Ausgabe. [15]

Fein diplomatisch: 

Als Vasall ist man Kummer gewohnt. Was würde er heute sagen? Werden die USA unter Trump auf unsere politischen und wirtschaftlichen Interessen noch weniger Rücksicht nehmen als unter seinen demokratischen Vorgängern? „Ich habe Nord-Stream 1 gestoppt“, gab Trump vor seiner Wahl zum Besten. [16] Inwieweit da etwas Wahres dran ist oder nicht, auf jeden Fall hat Deutschland sich auf lange Sicht durch die Wirtschaftssanktionen gegen Russland geschadet. Die USA profitieren durch die Lieferung von umweltschädlich gewonnenem Flüssiggas und werden künftig bei der Durchsetzung ihrer nationalen Interessen noch weniger Skrupel kennen.

„Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern“, stellte schon Zbigniew Brzeziński fest. Zwar fügt er hinzu, dass dies „kein gesunder Zustand“ sei [17], meint aber damit nicht mehr Eigenständigkeit für uns, was innerhalb der EU auch zugegebenermaßen schwierig wäre. Ein „gesunder Zustand“ wäre aus seiner Sicht vielmehr, dass alle im US-Interesse handeln, ohne dass man sie beaufsichtigen müsste. Als Anhänger der US-Demokraten ist der Autor guten Gewissens, für Freiheit und Frieden zu stehen, wie sie die USA aus seiner Sicht für die Welt garantieren könnten, wenn ihr Platz als „einzige Weltmacht“ nicht immer wieder angefochten würde. Dass dies irgendwie geschehen könnte, hat Brzeziński allerdings schon geahnt.

Ohne ein „langfristiges Miteinander“ geht es nicht

Im Nachwort von 2016 gibt Brzeziński zu, dass „Amerika sowohl im In- als auch im Ausland als geschwächt wahrgenommen“ wird, sich „Russland in die vorderste Linie des Weltgeschehens drängt“ [18] und China sich als „neu entstehende Weltmacht“ [19] entwickelt. „Die einzige Sache, die wirklich niemand will, ist, dass sich Russland und China verbünden.“ [20] Was Donald Trump in Arizona bei einem seiner letzten Wahlkampfauftritte sagte, ist also nicht neu. Dass Russland und China nun im Bunde sind, legt er seinem Vorgänger Biden zur Last. Henry Kissinger (1923-2023) hatte kurz vor seinem Tod gesagt: „Die größte Bedrohung für den Weltfrieden? Das sei eine Konfrontation zwischen den USA und China.“ [21]

Und auch Brzeziński war klug genug, vor einer wirklichen Kollision zurückzuweichen. Amüsant beim Lesen zu beobachten, welchen Zickzack-Kurs er einschlägt: Eben noch siegesgewiss am „Schachbrett“, kommt ihm dann doch zu Bewusstsein, dass es noch andere Spieler gibt, deren Selbstbewusstsein wächst. Umso eindringlicher mahnt er im „Ausblick“ von 2016 Lösungen an – für ein „langfristiges Miteinander aller drei Seiten … China, dem Problem der Zukunft, Russland, dem Unruhestifter der Gegenwart, und den Vereinigten Staaten, der alternden Supermacht, gefangen in den schlechten Gewohnheiten seiner Geschichte“. [22]

Ob vor dem Hintergrund einer neu entstehenden multipolaren Weltordnung eine Untersuchung wie die von Brzeziński überholt und somit obsolet geworden wäre? Im Gegenteil! Erstens sind die hier beschriebenen hegemonialen Bestrebungen noch längst nicht vom Tisch – in einer zunehmend krisenhaften Situation unter Präsident Trump könnten sie noch schärfere Formen annehmen – und zweitens bietet das Buch eine Schulung in geostrategischem Denken. In einer Rationalität, die gerade heutigen US-hörigen deutschen „Musterknaben“ (und -schwestern) verloren gegangen ist, sodass sie als Moralapostel international schon nicht mehr ernst genommen werden.

Aber: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“

[23] – Was Egon Bahr am 3. Dezember 2013 bei einer „Willy-Brandt-Lesewoche“ vor 45 Gymnasiasten in Heidelberg sagte, hätte wohl sogar Brzezińskis Zustimmung gefunden.

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