An die Blockwarte und Denunzianten

Ich bin in einer einzigen dieser WhatsApp Gruppen. Sie umfasst eine kleine Anzahl Nachbarn, die abseits der Zivilisation leben. Unser Netzwerk hat uns schon viele gute Dienste erwiesen:

Morgens ein fremdes Pferd vorm Haus? Foto gemacht, in die Runde geschickt, und ruck zuck ist nicht nur der Halter informiert, sondern es rückt ein ganzer Trupp Helfer mit Halfter und Pferdeleckerli an, um den Ausreisser dingfest zu machen.

Am Freitag konnte ich wieder die Vorzüge einer guten Nachbarschaft erleben. Ich hatte die eigene Treppe im Galopp genommen – mit schmerzhafter Konsequenz. Nichts Dramatisches, aber für ein wenig Hilfe war ich dankbar, denn mir taten alle Knochen weh.

Wussten Sie eigentlich, dass es in Deutschland Jahr für Jahr zu mehr als fünf Millionen Unfällen in den eigenen vier Wänden kommt? Die meisten davon gehen zwar glimpflich aus, doch oft genug enden sie mit tragischen Folgen. So sterben mittlerweile mehr Menschen an Haushaltsunfällen als im Straßenverkehr. Sturzunfälle machen sogar 80 Prozent aller tödlichen Haushaltsunfälle aus. Im Jahr 2017 sind 11’002 Menschen in Deutschland durch einen häuslichen Unfall ums Leben gekommen. Die Tendenz ist aufgrund der demografischen Entwicklung – immer mehr ältere Menschen – steigend. Leben ist riskant. Das wird allgemein hingenommen.

Zurück zur Nachbarschaft. Als ich an dem vertrackten Freitagmorgen meine Nachrichten checken wollte, fand ich eine Mut machende Botschaft in besagter WhatsApp-Gruppe:

„Ihr Lieben. Die Regierung fordert uns auf, unsere Nachbarn zu melden, wenn sie sich nicht an die neuen Regeln halten“

Bevor wir diesen Rat befolgen, sollten wir vielleicht die Tatsache berücksichtigen, dass die Regierung nicht da sein wird, um Dir beim Start Deines Autos zu helfen oder Dir Werkzeug oder eine Tasse Zucker zu geben – Deine Nachbarn schon. Wir brauchen einander, so kommen wir durch und leben in Frieden.

Am Ende des Tages wird die Regierung nicht vor Deiner Tür stehen, um Dir zu helfen – Deine Nachbarn eventuell schon. Ich kann nur für mich sprechen! Und ich sage, ich werde niemanden verraten.

Raten Sie mal, wer sich um mich gekümmert hat? Meine Nachbarin. Tatsächlich kam kein Regierungsvertreter am Freitag nach mir schauen, obwohl uns landauf und landab suggeriert wird, unsere Gesundheit läge allen so sehr am Herzen. Und ich verwette mein letztes Hemd darauf, dass von den fünf Millionen jährlich zu Hause Verunfallten einige vermutlich einen Krankenwagen und Ärzte gesehen haben, aber keinen jener Akteure, die uns jetzt zur Denunziation aufrufen.

Ich wünsche allen – nicht nur den Verunfallten – mitfühlende und hilfsbereite Nachbarn.

Mit den besten Grüßen

Petra Reitel

Bild: Unsplash – United Nations


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