BKK Chef Knieps zur Coronapolitik im Kanzleramt: „Das ist Bunkermentalität“

Die Bundesregierung scheint ein „völliges Unverständnis“ im Umgang mit der Pandemie zu haben. 
Statt diese als eine „Epidemie der Alten“ zu behandeln, „werden Lockdowns aneinandergereiht, die die Älteren nicht schützen“, und Kinder und Jugendliche „ihrer Würde beraubt“.
„Ich habe Merkel mitteilen lassen, dass wir Bürger seien, keine Untertanen“.

Franz Knieps (64) gilt als einer der profundesten Kenner des deutschen Gesundheitswesens. Der Volljurist war nach seiner Tätigkeit im AOK-Bundesverband zwischen 2003 und 2009 Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium und galt als rechte Hand von Ministerin Ulla Schmidt (SPD), die im Kabinett von Gerhard Schröder (SPD) und dann in der ersten großen Koalition von Angela Merkel (CDU) arbeitete. Seit 2013 ist Knieps Chef des Verbandes der Betriebskrankenkassen.

Interview RDN.de

Herr Knieps, Sie haben sich mit einer Reihe von Wissenschaftlern und Praktikern in mittlerweile sieben Thesenpapieren kritisch mit der Corona-Politik von Bund und Ländern auseinandergesetzt. Womit haben Sie die größten Probleme?

Es fängt schon an mit der völlig falschen Nutzung von wissenschaftlichen Begriffen an. Das Wort Inzidenz beschreibt die Zahl neu aufgetretener Krankheitsfälle innerhalb einer definierten Personengruppe in einem bestimmten Zeitraum. Die Zahl der positiv getesteten Menschen ist aber jeden Tag eine neue, zufällige Gruppe. Und wenn man gar nicht mehr testen würde, wäre Corona verschwunden. 

Das ist erkennbar Unsinn. Deshalb muss man richtigerweise von einer Melderate sprechen.

Aber dennoch gibt doch diese Melderate zumindest ein Bild von der Infektionslage.

Aber nur ein sehr ungenaues. In Wirklichkeit wissen wir nicht ansatzweise, wie stark das Virus die Bevölkerung durchdrungen hat. Es ist ein schweres Versäumnis, dass es ein Jahr nach Beginn der Pandemie noch immer keine Kohortenstudien gibt – also eine Untersuchung darüber, wie stark sich das Virus zu unterschiedlichen Zeitpunkten in einer bestimmten Gruppe ausgebreitet hat.

Unabhängig von allen Definitionen und Untersuchungen: Wir wissen, dass Corona in Deutschland wütet. Die Kliniken sind voll, die Todeszahlen sind hoch. Was ist Ihre Kritik?

Es war nach unserer Meinung sehr früh klar, dass es sich um eine „Epidemie der Alten“ handelt. Statt sich aber im Sommer sehr gezielt mit speziellen Präventionsprogrammen für die Risikogruppen auf den Herbst und Winter vorzubereiten, werden Lockdowns aneinandergereiht, die die Älteren nicht schützen. Ende 2020 waren 88 Prozent der Corona-Toten über 70 Jahre alt. Allein die Pflegeheimbewohner machen ein knappes Drittel aller Sterbefälle in Deutschland aus, obwohl sie nur ein Hundertstel der Bevölkerung stellen. Das liegt nicht an der Biologie des Erregers, sondern ist die Konsequenz gravierender politischer Fehlentscheidungen.

Sie halten also auch den derzeitigen Lockdown für überflüssig?

Nein. Weil massive Fehler gemacht wurden, sind wir jetzt geradezu gezwungen, mit allen Mitteln zu versuchen, das Gesundheitswesen zu entlasten. Tatsächlich sinken auch die Melderaten bei den Jüngeren. Bei den Älteren zeigen sich allerdings kaum Änderungen. Für sie ist der Lockdown wirkungslos.

Da aber auch Jüngere an den Folgen von Covid-19 sterben, ist auch eine Senkung der Infektionsraten in dieser Altersgruppe ein Erfolg, oder nicht?

Sicher. Doch die Frage ist, mit welchen Kollateralschäden das einhergeht. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Worte von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble aus dem Frühjahr. Er hatte gesagt, wenn es überhaupt einen absoluten Wert im Grundgesetz gebe, dann sei es die Würde des Menschen. Das schließe das Sterben nicht aus. Wenn Kinder und Jugendliche über Wochen daran gehindert werden, in die Schule zu gehen, dann werden sie ihrer Würde beraubt.

Sie würden also die Schulschließungen beenden?

Die Schulen müssen wieder geöffnet werden, je schneller desto besser. Zwar wissen wir inzwischen, dass Kinder beim Infektionsgeschehen eine größere Rolle spielen als bisher vermutet. Aber das Risiko müssen wir eingehen. Der Staat kann doch nicht hinnehmen, dass es vom Geldbeutel oder dem Improvisationstalent der Eltern abhängt, ob die Kinder Zugang zu Bildung bekommen. Ich habe den Eindruck, die politischen Entscheidungsträger können sich die Situation für Kinder in bildungsfernen Haushalten gar nicht vorstellen: Dass es dort Kinder ohne Computer gibt, ohne Unterstützung beim Lernen, ohne warmes Mittagessen, aber vielleicht sogar mit häuslicher Gewalt.

Wie sieht es mit den anderen Beschränkungen aus?

Die Einbeziehung von unter 14-Jährigen in die rigiden Kontaktbeschränkungen muss aufgehoben werden. Da kleine Kinder nirgends allein hingehen, bedeutet das für sie ein völliges Kontaktverbot. Das ist doch krank. Und außerdem kann ja nun wirklich niemand erklären, warum es gefährlich sein sollte, mehr als 15 Kilometer raus zu fahren und dort mit der Familie rodeln zu gehen. Das ist alles nicht mehr zu verstehen. Das frustriert die Menschen, womit am Ende die Bereitschaft zum Mitmachen sinkt. Damit ist gar nichts gewonnen.

Was ist Ihrer Meinung nach zu tun?

Als Erstes muss darauf verzichtet werden, die Melderate, vulgo Inzidenz, zum Maß aller politischen Entscheidungen zu machen. Die ausgegebene Zielmarke von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen ist in diesem Winter nicht mehr zu erreichen. Es gibt derzeit sogar einen öffentlichen Überbietungswettbewerb darüber, wer das niedrigste Ziel formuliert. Das zeugt von einem völligen Unverständnis über den Verlauf einer Epidemie. Ein realistisches Ziel kann allenfalls sein, den jetzigen Wert zu halten. Außerdem müssen wir die Auslastung der Kliniken im Blick haben und die Sterblichkeit in bestimmten Altersgruppen.

Wie werden sich die Impfungen auswirken?

In einer Modellrechnung, die wir für realistisch halten, nehmen wir an, dass die über 80-Jährigen bis Ende Februar durchgeimpft sind. Dann werden in der ersten Märzwoche 3200 von 4700 Todesfällen verhindern. Die Melderaten werden dagegen kaum heruntergehen, weil das Virus längst in breiten Bevölkerungskreisen zirkuliert. Das zeigt auch, dass die Politik diese Raten nicht als Grundlage für Entscheidungen nutzen darf.

Den mangelnden Schutz der Heimbewohner hat mittlerweile auch Kanzlerin Merkel kritisiert. Was muss hier besser gemacht werden?

Viele Forderungen von uns und anderen werden jetzt endlich umgesetzt, also zum Beispiel mehr Tests oder der Gebrauch von FFP2-Masken. Aber es gibt noch immer Lücken. So wurde uns berichtet, dass das Leasingpersonal oder externe Dienstleister in Heimen oft nicht getestet werden. Damit werden Menschen in unverantwortlicher Weise gefährdet. Völlig unter dem Radar ist weiterhin die ambulante Pflege mit immerhin vier Millionen Menschen. Hier fehlt es nicht nur an Tests, sondern nach wie vor auch an Schutzausrüstung. Das ist unfassbar.

Es ist zu hören, dass auf die Autoren der Thesenpapiere aus dem Kanzleramt erheblicher Druck ausgeübt worden sei, sich nicht mehr zu äußern. War es so?

Ach, Druck würde ich das nicht nennen. Ja, es gab frühzeitig eine Bitte aus dem Umfeld der Kanzlerin, das zu beenden. Ich habe Merkel mitteilen lassen, dass wir Bürger seien, kein Untertanen. Leider ist es nach wie vor so, dass insbesondere im Kanzleramt eine Bunkermentalität vorherrscht. Dort wird allein auf Virologen gehört, und dann auch immer auf dieselben. Abweichende Ansichten oder Ratschläge anderer wissenschaftlicher Disziplinen werden bis heute ignoriert. Dabei ist gerade in schwierigen Zeiten wie diesen jede fachkundige Stimme dringend notwendig.

Quelle: RDN.de

Quelle: News.de

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